B. Ziemann: Sozialgeschichte der Religion

Cover
Titel
Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart


Autor(en)
Benjamin, Ziemann
Reihe
Historische Einführungen 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian Huber, Frankfurt am Main

Benjamin Ziemanns «Sozialgeschichte der Religion» begründet sich gewissermassen selbst: Dass, wie der Autor gleich zu Beginn festhält, Religion auch in den historischen Disziplinen wieder «en vogue» sei, verdeutlicht nicht zuletzt das Erscheinen der vorliegenden einschlägigen Einführung. Eine derartige, unterschiedliche methodische Ansätze und Forschungserträge ordnende und gleichsam neue Perspektiven eröffnende Synthese war angesichts des seit drei Jahrzehnten ungebrochenen historiographischen «religious turn» (A. Steinhoff) längst überfällig.

Ziemann gliedert das Buch in drei Hauptkapitel, die theoretische Bausteine einer Sozialgeschichte der Religion erarbeiten und deren Arbeitsfelder erschliessen. Zwei kürzere, die Grenzen sozialhistorischer Religionsgeschichte absteckende Abschnitte runden den Band ab. Das Buch gründet insgesamt auf drei Grundpfeiler, die diese Gliederung durchbrechen: Ein konfessionsübergreifender, auch das Judentum inkludierender Blick durchzieht den ganzen Band, die Argumentation orientiert sich weitgehend an (religions-)soziologischen Erkenntnissen und verfolgt dabei konsequent eine transnationale Perspektive, die Forschungsergebnisse und –Traditionen aus dem angelsächsischen Raum, Frankreich und Deutschland miteinander in Beziehung setzt. Trotz dieser gründlichen Syntheseleistung bleibt es bedauerlich, dass die reiche italienische Forschungstradition, die seit den ausgehenden 1950er Jahren im Zeichen einer «storia sociale e religiosa» steht, nicht besprochen wird.

Ziemann entwickelt das Postulat einer Sozialgeschichte der Religion zunächst negativ in Abgrenzung zu einer heilsgeschichtlich orientierten, ihren konfessionellen Tellerrand kaum überschreitenden und methodisch konservativen konfessionellen Geschichtsschreibung. Eine Sozialgeschichte der Religion positioniere sich dagegen jenseits der Bipolarität zwischen Kultur- und Sozialgeschichte, sie will vielmehr die Fragestellungen beider Ansätze für das Verständnis vergangener religiöser Kulturen nutzbar machen. Methodisch sieht Ziemann diesen Anspruch in begriffs- und diskursgeschichtlichen sowie einem systemtheoretischen Ansatz, der «Religion» als soziales, sprich kommunikatives Phänomen versteht, realisierbar.

Wie der Autor zu Recht insistiert, kommt eine theoretisch anspruchsvolle Religionsgeschichte nicht ohne einen präzisen Religionsbegriff aus: Ziemann verwirft eine substantialistische, nah an religiösen Akteuren gearbeitete und auf deren Selbstbeschreibungen basierende Definition, die nur eine inadäquate Erfassung religiöser Prozesse erlaube. Die weitere Begriffsbestimmung bleibt offen, Ziemann warnt jedoch vor der definitorischen Gratwanderung zwischen zu engen und zu weit konzipierten Begriffen, die empirisch kaum einlösbar sind. Eine generelle Ablehnung religiöser Selbstbeschreibungen als Annäherungsmöglichkeit an vergangene Religion erscheint indes als übereilt, zumal Ziemann in den folgenden Kapiteln wiederholt auf dieses Instrument zurückgreifen muss.

Das zweite Kapitel ist drei elementaren religiösen Prozessbegriffen gewidmet. Entgegen dem klassischen Säkularisierungsbegriff, der auf einer einseitigen Rezeption Max Webers basiere und einen religiösen Niedergang postuliere, plädiert Ziemann für ein flexibleres Verständnis dieses Prozesses, das der funktionalen Differenzierung der westlichen Gesellschaften Rechnung trägt und Säkularisierung vielmehr als Formenwandel des Religiösen fasst.

Als zweiten religiösen (christlichen) Prozessbegriff behandelt Ziemann «Konfessionalisierung ». Anhand anschaulicher Quellenbeispiele diskutiert der Abschnitt die interpretativen Ambivalenzen des Prozesses, wobei Ziemann betont, dass eine etatistische Dimension sich kaum mit einem mikrohistorischen Gegennarrativ ausspielen lasse. Vielmehr müsse die Beschreibung der von «oben» implementierten Religionsreform ihr Quellenspektrum über staatliche oder kirchliche Quellengattungen hinaus erweitern und verstärkt, so weit vorhanden, Ego-Dokumente berücksichtigen.

Erhellend ist der dritte Prozessbegriff, die religiöse Organisationsbildung. Ausgehend von der von Max Weber formulierten Differenz zwischen Kirche und Sekte, zeigt Ziemann wie gewinnbringend die neuere soziologische Terminologie der «Organisation» und «Interaktion» zur Analyse von Religion angewendet werden kann. So lasse sich der Prozess der Konfessionalisierung auch als «Ausbildung einer flächendeckenden Anstaltskirche» (80) begreifen, pietistische Konventikel etwa als institutionalisierte Interaktionsform. Aber auch Säkularisierung ist in der Optik religiöser Organisationen beobachtbar: So zeige etwa die Pastoral in den grossen und rasch wachsenden Metropolen des 19. Jahrhunderts die Schwierigkeiten religiöser Organisationen, administrative und pastorale Standards aufrecht zu erhalten.

Der dritte zentrale Abschnitt fragt nach religiösen Vergemeinschaftungsformen der Moderne: Die erste vorgestellte Dimension, die Differenzierung zwischen religiösen Leistungs- und Publikumsrollen, erlaubt eine schärfere Fokussierung sich wandelnder Priesterbilder und des sich zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert ständig erweiternden Anforderungskatalog an die Geistlichkeit aller Konfessionen.

Daran anschliessend lässt sich religiöse Vergesellschaftung anhand geschlechtlicher Kategorien beschreiben, die Aufschluss über religiös normierte Handlungsspielräume bzw. geschlechtlich codierte Zuschreibungen geben. Ziemann demonstriert dies an der sogenannten «Feminisierung der Religion», die im 19. Jahrhundert «Religiosität» als genuin weibliche Eigenschaft erscheinen liess, andererseits Frauen gerade durch das Medium «Religion» neue Standorte in der männlich gefärbten bürgerlichen Öffentlichkeit ermöglichte. Eine geschlechtergeschichtlich interessierte Religionsgeschichte schliesst auch Männerbilder ein: Als anregende Untersuchungsgegenstände nennt Ziemann das im Laufe der Reformation sich ändernde Bild und Selbstverständnis des nunmehr verheirateten Pastors oder etwa die in den USA und Grossbritannien als «muscular christianity» bezeichnete und im 19. Jahrhundert entstandene Bewegung, die physisch trainierte Männlichkeit mit religiöser Glaubensstärke verband.

Als dritten Vergesellschaftungsmodus diskutiert Ziemann die Medialität religiöser Kommunikation. Im Sinne Luhmanns wird dabei mit «Verbreitungsmedien» ein Medienbegriff verwendet, der die Wahrscheinlichkeit bzw. den Erfolg religiöser Kommunikation massgeblich bedingt. Mit Blick auf die Reformation eröffnen sich damit zahlreiche Forschungsfelder. So verdeutlichten etwa Holzschnitte die Transmedialität reformatorischer Kommunikation, die trotz des neuartigen Mediums des Drucks ohne mündliche Interaktion und Visualisierungen nicht auskam. Erhebliche Forschungsdesiderate bestehen indes für das 20. Jahrhundert, in dem das Verhältnis zwischen Religion und neuen Massenmedien als nahezu unexploriert gelten muss.

Diese wenigen angeführten Beispiele, die viele weitere skizzierte Forschungsfelder unberücksichtigt lassen müssen, deuten zunächst die auf 164 Textseiten komprimierte, beeindruckende Themenvielfalt einer Sozialgeschichte der Religion an. Ziemann gelingt es, in einer präzisen wie gut lesbaren, ihre Begriffe stets historisierenden Sprache zentrale Fragestellungen einer sozialhistorischen Religionsforschung soziologisch informiert zu formulieren. Der Band ist somit als transdisziplinäre Brücke zu verstehen, die nicht nur für Sozialhistoriker der Religion beschreitenswert ist.

Das konsistent angeordnete Buch ist durch zahlreiche Querverweise und Verbindungen strukturiert: Ziemann zeigt etwa, dass Säkularisierung und Konfessionalisierung sich nicht ausschlossen, sondern sich gegenseitig bedingten. Die überkonfessionelle Perspektive verdeutlicht, wie sehr eine Religionsgeschichte der Moderne eine konfessionell geteilte Geschichte ist: Die meisten beschriebenen Prozesse finden sich, freilich mit unterschiedlichen Nuancierungen, innerhalb der diversen Konfessionen wieder.

Die wenigen Fehler, etwa die Datierung des I. Vatikanums (1869/70) mit 1870/71 (11), trüben dieses positive Bild angesichts der Fülle an angeführten Informationen kaum. Andererseits reiht sich an diese indiskutablen Verdienste die Frage, ob diese Einführung ihr eigentliches Publikum nicht überfordert: Zwar sind mit einer einschlägige Nachschlagewerke und Handbücher eigens ausweisenden Auswahlbibliographie, in kurzen Exkursen hervorgehobenen Begriffserläuterungen sowie vereinzelten Quellenbeispielen für diejenigen, die an das Fach herangeführt werden sollen, unverzichtbare Hilfestellungen geleistet. Es bleibt allerdings fraglich, ob diese Hilfsmittel allen Lesenden ausreichen, um den zuweilen auf sehr abstraktem und hohem Niveau angesiedelten Argumentationen Ziemanns zu folgen. Als betont anspruchsvoller Einstieg in das Fach, aber auch als prägnante Synthese für mit der Materie Vertraute sowie als solider Brückenschlag zwischen (Religions-)Soziologie und Sozialgeschichte bleibt das Buch dennoch überaus empfehlenswert.

Zitierweise:
Florian Huber: Rezension zu: Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart (=Historische Einführungen, Bd. 6), Frankfurt am Main/New York, Campus Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 492-494